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Die Unendlichgeschichte


Film-Mechaniker

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Wie weit weg ist Unendlich? Ich stehe hinter meiner Kamera auf Dreibein, blicke durch den Sucher. Am Horizont, etwa zwei Kilometer entfernt, stehen Tannen vor sich auftürmenden Wolken. Die Wolken sind, ich beginne zu schätzen, fünf Kilometer hoch im Himmel. Ich will den Horizont und die Wolken scharf aufnehmen. Doch der Mond ist auch zu sehen. Er ist ungefähr 380‘000 Kilometer weit weg.

 

Wenn ich die Kamera eine halbe Drehung umschwenke, blinzle ich in die Sonne. Sie ist 150 Millionen Kilometer entfernt. Ist das Unendlich?

 

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Nein, noch viel weiter weg sind die Sterne, andere Sonnen. Lichtjahre entfernt, aber auch Milliarden Lichtjahre sind nicht Unendlich. Der Begriff ist doch Quatsch! Wie ist man dazu gekommen, ∞ auf Objektive zu setzen, wenn schon ein, zwei Kilometer kaum mehr einen Unterschied beim Scharfstellen ausmachen?

 

Es kommt auf die Einstellung an, ist ein oft gesagter Satz. Aha, die Objektive sind irgendwie auf Unendlich eingestellt, wenn ich den Schärfering am ∞-Anschlag habe. Die Frage ist nun, welche Entfernung in der Fabrik oder beim Service-Techniker gewählt wird.

 

Das ist die Ansicht des Laien. Der Fachmann fragt noch nach etwas anderem, nämlich nach dem so genannten Zerstreuungskreis. Das Zerstreuungskreislein in der Bildebene, also auf dem Film, wird mit einem Durchmesser festgelegt. Nehmen wir ein Mal 0,03 mm dafür. Bei diesem gerade noch tolerierten Unschärfekreislein, das einem Punkt in der Landschaft entspricht, geben sich die Techniker mit der Schärfe des fertigen Bildes zufrieden.

 

Die drei Hundertstel umfassen alles von der Auflösung der Filmschicht über die von mir getätigte Einstellung des Objektives bis zu Verwackelungseffekten. Gut, die habe ich mit meinem Stativ ausgeschaltet.

 

Das Objektiv habe ich am ∞-Anschlag. Ich schwenke zurück auf die Tannen und habe die Sonne wieder im Rücken. Der Film in der Kamera hat 100 ISO Empfindlichkeit. Ich drehe mit 24 Bildern in der Sekunde. Verschlußöffnung 170 Grad, folglich die Belichtungszeit 1/50 Sekunde. Der Belichtungsmesser zeigt auf Blende 16. Klar, die weißen Wolken senden viel Licht zu mir. Die interessieren mich aber nicht, es geht darum, was sich am Horizont zwischen den Tannen abspielt. Die Objektivbrennweite ist 100 mm. Ich stelle Blende 8 ein.

 

Bei Brennweite 100 mm, Blende 1:8 und dem angenommenen Unschärfekreisdurchmesser 0,03 mm sagt die Geometrie, daß die hyperfokale Distanz 41,77 Meter betrage. Von 20,88 Metern bis Unendlich ist alles scharf.

 

Was ist hyperfokale Distanz? Das ist die Entfernung, die am Objektiv eingestellt werden muß, damit der Schärfebereich bis unendlich reicht. Nanu? Wo ist Unendlich denn schon wieder? Ich komme ins Grübeln.

 

Die Auflösung des Rätsels ist eine praktische. Die Schärferinge der Objektive tragen jeweils eine letzte Entfernungsmarke vor dem ∞-Anschlag. Diese Marke, 60 Meter auf meinem Hunderter, entspricht der hyperfokalen Distanz bei offener Blende. Ich habe ein Berthiot-Cinor 1:3,5. Wieso ist die jetzt aber 60 und nicht 41,77 Meter? Weil Berthiot einen anderen Zerstreuungskreisdurchmesser zu Grunde legt. Moment, Mathematik sausen lassen: 0,024 mm. Aha.

 

Kann ich denn mehr aus meinen Objektiven herausholen, ich meine, das Zerstreuungskreislein weiter verkleinern? Aber sicher, ich füttere den Rechner mit 0,015 mm und heraus kommt die hyperfokale Distanz von 190,58 Metern. Der so genannte Nahpunkt ist nun bei 95,3 Metern. Von da an ist alles scharf bis Unendlich. So scharf, wie alle Bestandteile zusammen hergeben. Das schwächste Glied in der Kette ist — der Film.

 

Die Schichtdicke und das darin sitzende Silber- oder Farbstoffbild müssen dünner werden und besser eben liegen. Ich will es so. Aha, sagt der schon gelangweilte Verstand, wenn es so ist, dann mußt du den Film wechseln. Mit dem 100-ISO-Material wirst du die Feinheiten der Objektive nicht festhalten.

 

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Die Unendlichgeschichte hat mich über den Umweg der Objektiveinstellung dahin gebracht, an die Glasplattenfotografie aus dem 19. Jahrhundert nachzudenken. Eine Platte 9 × 12 cm ist viel besser eben als der labbrige Plastikfilm, und das über die 144 Mal größere Fläche als beim 16-mm-Film. Ein Gefühl des Verlorenseins ergreift mich, ich bin verloren im Matsch des Amateur-Films. Ich werde nie ein so scharfes und mit zarten Feinheiten angefülltes Bild projizieren können wie mit einem 9-×-12-Dia. Warum packt mich aber die Filmprojektion so mächtig, wenn ich den 16er laufen lasse?

 

Ja, Freunde, das ist die Bewegung. Ein Dia muß von der fotografischen Güte leben. Film zeigt fortlaufend Neues, und das soll man gezielt ausnutzen. Auch mit 8-mm-Film, wo der Zerstreuungskreis 0,05 mm Durchmesser hat, stört sich niemand an der geringeren Auflösung. Wenn man das Korn scharf krabbeln sieht, ist man zufrieden. Man vergißt die Körnung sofort und verfolgt die Handlung.

 

Wie hochauflösende Filmbilder wirken, wissen wir von IMAX. Echte IMAX-Aufnahmen mit Einzelbildern, die 52 auf 71 mm messen, erschlagen einen mit ihrer Fülle an Einzelheiten. Wer es nicht glaubt, muß es selber erleben. Nach einer halben Stunde ist man schon randvoll. Deshalb sind die echten IMAX-Filme nicht länger als 40 Minuten.

 

Unendlich ist der Fernpunkt, den ein Objektiv bei offener Blende und Einstellung auf die hyperfokale Distanz scharf abbildet. Der Rechner sagt für mein 100er Cinor 62,8 Kilometer. Wenn ich auf Kosten des Nahpunktes, ich lasse ihn weiter in die Landschaft hinaus wandern, noch etwas einschraube, nur einen Hauch, dann flieht der Fernpunkt in die Tausende von Kilometern. Es genügt folglich, daß der Techniker den ∞-Anschlag auf einen Kilometer setzt. Erst bei sehr langen Brennweiten wird es kritischer. Ein 500er Objektiv 1:4 hat bei der hyperfokalen Distanz (4167 Meter) den Nahpunkt bei 2083 Metern und den Fernpunkt bei 104‘175 Kilometern. Zerstreuungskreis immer 0,015 mm

 

Man kann alles auf die Spitze treiben. Die Filmtechnik leistet nicht sehr viel im Vergleich zur professionellen Fototechnik. Zum Glück darf alles etwas schwammiger sein wegen der Bewegung. In den Sinne: Gut Licht!

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Du verzweifelst ja gerade ziemlich an deiner Existenzgrundlage.

 

Ich bin immer wieder überrascht, wie durchaus lyrisch Du als ansonsten 'mechanisch Denkender' schreiben kannst. An deiner Stelle würde ich mal versuchen, diese Begabung weiter zu pflegen, mir scheint das aussichtsreich.

 

- Carsten

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