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Walter Jonigkeit gestorben


filmempire

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6. Januar 2010 Berliner Morgenpost, Peter Zander

 

Er war so alt wie das Kino selbst. Er hat den Stummfilm, den Tonfilm, den Farbfilm in CinemaScope und 3D miterlebt: Walter Jonigkeit war Berlins ältester aktiver Kinomacher. Das Filmtheater Delphi ließ ihn bis zuletzt nicht los. Jetzt ist der 1,90-Meter große Gentleman im Alter von 102 Jahren gestorben.

Erst vor wenigen Wochen, am 3. November, wurde ihm noch einmal groß gehuldigt: Als sein Kino, das Delphi, 60. Geburtstag feierte. Der jahrzehntelange Betreiber ging allerdings nicht persönlich über den roten Teppich. Nicht etwa, weil er zu schwach gewesen wäre. Im Gegenteil: Er hatte einfach immer seinen Stammtisch mit alten Freunden, und der war ihm heilig. Nun ist Walter Jonigkeit im biblischen Alter von 102 Jahren gestorben – bereits am 1. Weihnachtsfeiertag, wie seine Frau Renate erst gestern bekannt gegeben hat. Er reißt eine große Lücke in die Berliner Kinolandschaft.

Keiner hat je so lange im Kinobetrieb gearbeitet wie Jonigkeit. Er hat sein Handwerk noch von der Pike auf gelernt; durchlief als blutjunger Volontär bei der Trianon-Film am Potsdamer Platz alle Abteilungen von Produktion über Verleih bis zum Vertrieb. Abends half er dann auch noch in dem Kino „Kamera Unter den Linden“ aus. Und als der dortige Leiter ausschied, im Dezember 1932 war das, übernahm er das Haus. Jonigkeit war damals gerade 27 Lenze jung und damit, das ist rückblickend nicht ohne Ironie, Berlins jüngster Kinobetreiber.

Als der Älteste, der Methusalem in seinem Gewerbe ging er bis zuletzt, in seinem hohen Alter, noch täglich frühmorgens in sein Büro im Delphi-Palast an der Kantstraße, auch wenn dieser mittlerweile von Jüngeren geleitet wird. Aber das Haus war sein Baby – und sein Lebenselixier. Hier saß er, hier schaute er auf die Bücher und empfing seine Gäste. Und was konnte ein Mann mit dieser Erfahrung nicht alles erzählen!

Die „Kamera“ war damals das erste Programmkino der Stadt. Weil Jonigkeit Stummfilme zeigte, die zu Beginn des Tonfilms sonst keiner mehr aufführen wollte. Und englische und französische Originalfassungen – weshalb ihm vor allem die Studenten von der Humboldt-Uni die Bude einrannten. Jonigkeit lud auch große Filmstars ein, die bei ihm zur Abwechslung mal Tickets verkauften oder den Platzanweiser spielten. Und er brachte Schauspieler wie Emil Jannings oder Marianne Hoppe, Heinz Rühmann oder Heinrich George im darüber liegenden „Klub der Kamerafreunde“ mit ihrem Publikum zusammen.

Später übernahm er auch „Die Kurbel“ in Charlottenburg. Beide Häuser wurden im Krieg stark beschädigt. Die Kamera brannte völlig aus; die Kurbel aber war das zweite Berliner Kino, das nach dem Krieg wiedereröffnet wurde. Und dann trug ihm ein Clubkamerad das Delphi an: „Hör mal, mein Onkel hat da ein Grundstück in der Nähe vom Zoo, da war früher mal ein Tanzpalast. Hast du nicht Interesse, ein Kino aufzubauen?“

Jonigkeit hatte! Und bekam allerhöchste Unterstützung. Der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter lief damals, auf dem Weg zur Arbeit, täglich an seiner Baustelle vorbei und grüßte. Eines Tages blieb er stehen und fragte: „Junge, was brauchste denn?“ Jonigkeit, gar nicht schüchtern, konterte: „Wenn Sie so fragen – ich brauche alles.“ Der Regierende half tatsächlich, mit Beton und Steinen. Und so wurde, am 1. November 1949, das damals größte Kino der Stadt eröffnet.

Die ersten Filme in der Trümmerzeit, das erzählte Jonigkeit gern, hat er noch höchstselbst mit dem Fahrrad aus dem sowjetischen Sektor geholt. Von Sowjetsoldaten unterm Tisch ausgeliehen, gegen Zigarettenwährung. Es waren russische Filme ohne Untertitel, die keiner verstand. Aber alle wollten nach dem Krieg etwas Neues sehen. Weil noch überall Ruinen standen, erfand er kurzerhand auch die allerersten Open-Air-Filmvorführungen in der Hasenheide. Das war im Hungerwinter 1946. Es war bitter kalt, aber die Leute kamen mit heißen Steinen und wärmten sich gegenseitig.

 

JONIGKEIT SETZTE STETS AUF DIE ALLERNEUSTE TECHNIK

 

Später setzte Jonigkeit immer auf die allerneueste Technik: 3D, CinemaScope, 70 Millimeter-Projektoren, das alles gab es in Berlin immer zuerst bei ihm zu sehen. Wie selbstverständlich liefen auch alle amerikanischen Großproduktionen in seinen Häusern. Und die waren auf Langlaufrekorde geradezu geeicht: Allein „Vom Winde verweht“ lief zwei Jahre und vier Monate in der Kurbel. Selbst der Straßenbahnschaffner rief damals an der Giesebrechtstraße: „Hier geht’s zu ‚Vom Winde verweht’.“ Und auch im Delphi lief lange Zeit immer nur ein Film pro Jahr: „My Fair Lady“ 52 Wochen. „Ben Hur“ 50 Wochen. „Die Brücke am Kwai“ 41 Wochen, „Porgy and Bess“ 33 Wochen.

In seinen besten Zeiten unterhielt der 1,90-Meter-Hüne weitere Lichtspielhäuser. Die Astoria-Lichtspiele in Reinickendorf, die Viktoria-Lichtspiele in Schöneberg, zwischenzeitlich sogar das Freilichtkino in der Waldbühne. Er expandierte bis nach München und nach Hamburg. Als mit dem Aufkommen des Fernsehens jedoch das große Kinosterben einsetzte, musste auch Jonigkeit sich nach und nach von einigen Häusern trennen oder sie schweren Herzens Jüngeren überlassen, zuletzt 1989 die Kurbel. Ganz konnte er sein Metier indes nie aufgeben, vom Delphi trennte er sich deshalb nie. Hier setzte er noch einmal auf seinen alten Trick, zeigte vergessene Filme. Wiederaufführungen und Wiederentdeckungen. Etwa Billy Wilders Ost-West-Satire „Eins, Zwei, Drei“, über die damals, zur Zeit des Mauerbaus, keiner hatte lachen können, die aber Ende der 80er-Jahre endlich ihren verdienten Klassikerstatus errang. Im Delphi.

Für seine Verdienste um die Filmwirtschaft wurde er 1988 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Im Mai dieses Jahres hätte er sein 85. Dienstjubiläum feiern können. Diesen Langzeitrekord kann er nun nicht mehr aufstellen. Er wird der Stadt schmerzlich fehlen.

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